Knaben und Mädchen – getrennte Edukation
An Ostern 1960 war es soweit, ich war über 6 Jahre alt und kam in die Schule. Das Schuljahr begann damals noch zu Ostern. Die Grundschulen sind in Deutschland dem Wohnviertel zugewiesen, ich kam also in die Uhland-Schule in der Mannheimer Neckarstadt-Ost, die an der viel befahrenen Lange-Rötter-Str. lag. Viel befahren ist natürlich relativ zu sehen, wir sind Anfang der 60er Jahre in Deutschland, und noch gibt es nicht wirklich viele Autos. Das ist der eine Unterschied zu heute, der zweite ist die getrennte Unterrichtung von Mädchen und Jungen (Knaben). Die Uhland-Schule hatte damals zwei grosse Eingänge, der linke war mit der Überschrift „Mädchen“ versehen, der rechte mit „Knaben“; es gab also reine Jungen- und Mädchenklassen. Selbst später im Gymnasium wurde das nur durch eine Besonderheit unterbrochen, aber irgendwann während meiner Schulzeit kam die Co-Edukation, denn es tauchten dann immer mehr Mädchen an der Schule auf.
Zurück zur Uhland-Schule: mein erster Lehrer war ein gewisser Hr. Kowalke, 2 Jahre lang. Es gab noch Pulte und Platz für Tintenfässer, auch wenn wir nicht mehr mit Federn geschrieben haben, sondern mit sog. Füllfederhaltern, kurz Füllern. Der Füller hatte auch eine Schreibfeder, aber einen grösseren Tank für die Tinte, die wir aus kleinen Glasfässchen immer wieder nachgefüllt haben. Ja, und natürlich gab es auch immer wieder mal einen Klecks, was dann vom Lehrer negativ beurteilt wurde, denn es gab eine Note für „Schrift“. Wir mussten also noch richtig schön schreiben lernen, heute schreibt man weder schön noch richtig. Das eine Extrem ist in das andere umgeschlagen, beides war bzw. ist nicht richtig. Dieses Thema setzt sich bei vielen anderen Themen fort, z.B. der Rolle der Frau oder der Umwelt. Ja und tata (!), da haben wir gleich eines meiner Lieblingsthemen, die Grünen, die Besserwisser aus dem wohlhabenden Bürgertum, die im Schnitt von 10% gewählt werden und die kein Mensch wirklich braucht……
Grüne gab es Anfang der 60er noch keine und für Politik war ich noch viel zu klein. Das „Schlachtfeld“ war der Schulhof, der Unterricht und der Nachhauseweg. Letzterer war manchmal gefährlich, weil dir dort einer aufgelauert hat, der etwas gegen dich hatte. Wie z.B. der junge Peter Knupfer, der mich einmal abgepasst hat, in der Grillparzer-Str. in der Neckarstadt und verprügelt. Ich habe das den Eltern erzählt und erreicht, dass wir nur noch wenig bis gar nichts mehr in der Bäckerei seiner Eltern gekauft haben. Er hat wohl später diese Bäckerei übernommen, aber bei weitem nicht so erfolgreich führen können wie z.B. Michael Grimminger. Die Bäckerei Knupfer ist heute in K&U aufgegangen; ob er da noch etwas zu sagen hat, weiss ich nicht.
Ganz anders die fleissige und umgängliche Familie Grimminger: Sohn Michael war ebenso wie der junge Knupfer ein Klassenkamerad von mir, aber ein bischen älter als ich. Sein Vater hatte ihm ebenso wie meiner eine tolle Modellbahn gebaut, aber eine Märklin, also nicht kompatibel mit meiner, und viel grösser, ganz toll. Wir haben manchmal bei ihm gespielt, dann wieder bei mir. Und dann war es genauso, wie ich schon einmal vorher erzählt habe. Wir waren einfach die Underdogs, die Arbeiterfamilie. Meine durchaus schöne Eisenbahn war halt nicht so gross und interessant wie die von Michael, daher haben sich die Spielbesuche bei mir in Grenzen gehalten. Aber ein ganz klares Wort: ein Herabsehen von oben gab es bei der Familie Grimminger nicht, und ich denke, bis heute nicht. Das unterscheidet sie ganz wesentlich von anderen sog. „Neureichen“ nach dem Krieg. Und obwohl ich Michael zunächst nach der Grundschulzeit aus den Augen verloren hatte, sind wir uns immer wieder freundlich auf unserem Lebensweg begegnet. Eine ganz interessante Anekdote gab es in den frühen 80ern mitten auf der Unteren Clignetstrasse, als ich schon längst nicht mehr in der Mannheimer Neckarstadt wohnte. Doch dazu später; jetzt sind wir erst einmal in der Grundschule.
Meine Freunde waren neben Michael, vor allem Eckhard Selig in der Landwehrstr., Franz-Josef Mayer, auch in der Landwehrstr., Dieter Strauss in der Eifelstr. und Karlheinz Frank (wieder ein Karlheinz!) in der Lange-Rötter-Str., direkt gegenüber der Schule. Dort bin ich dann auch einmal unachtsam über die Strasse gerannt und angefahren worden. Nichts passiert, erschrockener Autofahrer, erschrockener Junge, sonst nichts. Ich möchte nicht wissen, was heute daraus gemacht würde, wo mich kürzlich sogar ein parkender Autofahrer anmachte, ich hätte seinen Wagen touchiert, er könne nur nichts erkennen; dabei war überhaupt nichts passiert! Ein anderer hat auf einem anderen Parkplatz einen Rückwärts-Rückwärts-Unfall verursacht und ist schnell abgehauen. Unsere Gesellschaft ist heute nur noch ein „jeder gegen jeden“, mit der Rechtsschutzversicherung im Rücken. Ein Miteinander, einen Ausgleich von Interessen, sehe ich nicht mehr, nur lauter Hyänen (80 Mio), und es kotzt mich richtig an!
Auch damals in der Grundschule gab es durchaus grosse, sehr grosse soziale Unterschiede, nur wurden sie nicht so deutlich, so öffentlich wie heute ausgetragen. Da gab es die Kinder der oben erwähnten „Neureichen“ (meine Eltern haben die so genannt). Aber das waren meist Geschäftsleute und Handwerker. Die waren fleissig und wurden gebraucht, Handwerk hatte goldenen Boden, wie man so schön sagte. Dann gab es einige Arbeiterkinder wie mich, und einige Kinder von Flüchtlingen. Stopp, nicht, was man heute darunter versteht. Diese Familien waren aus dem Osten geflohen, aus Schlesien, dem Sudetenland, Ostpreussen und der sich immer stärker abschottenden DDR. Sie hatten alles verloren und haben hier wieder neu angefangen. Es waren Deutsche, sprachen die gleiche Sprache, hatten die gleichen Wertvorstellungen und Kultur. Wenn ich mich richtig besinne, war wohl die Familie Selig so eine Flüchtlingsfamilie aus Schlesien. Und auch die ersten Gastarbeiter kamen, zuerst Italiener, Spanier, dann Griechen. Zuerst allein, später auch mit Familien. Es ist richtig, wenn heute gesagt wird, Deutschland hat Erfahrung mit Flüchtlingen und Zuwanderung. Aber die heutige Armuts- und Bürgerkriegsmigration ist überhaupt nicht zu vergleichen mit dem, was da in den 50er und 60er Jahren passiert ist. Deutschland wurde wieder aufgebaut und brauchte Arbeitskräfte; alle, die kamen, waren hochwillkommen, haben mit angepackt und dabei auch selbst wirtschaftlich profitiert. Sie gingen in die gleiche Kirche und haben z.T. sogar etwas mitgebracht, was heute aus diesem Land nicht mehr wegzudenken ist, wie z.B. das italienische Eis, die Pizza oder den griechischen Fleisch-Spiess. Die Politik hat damals die Aussöhnung mit Frankreich sehr stark vorangetrieben, ich glaube aber, dass zu der Zeit viel mehr deutsch-italienische Freundschaften entstanden sind. Ich glaube mich zu besinnen, dass in meiner Grundschulklasse auch ein italienischer Junge war, auf jeden Fall später im Gymnasium. Ja, und dann gab es auch Kinder aus dem Armen-Milieu, 2 Brüder waren z.B. aus einer Familie mit 20 (!) Kindern. Klar, dass dort die Lernbedingungen nicht so waren wie für mich als Quasi-Einzelkind, denn der Bruder war ja schon viel älter. Und die ganz „armen“ waren die Kinder von Schiffern und Schaustellern, die immer nur für ein paar Tage in unserer Klasse waren. Wie die eine Schulausbildung zu Ende gebracht haben, ist mir bis heute ein Rätsel.
Mir selbst fiel alles sehr leicht, ich konnte schnell rechnen und schreiben; interessiert haben mich jedoch Dinge, die mit Geographie und Natur zu tun hatten. Damals nannte man das Heimatkunde, etwas, was heute weitgehend verloren gegangen ist. Wir sind als Klasse raus gegangen, z.B. in den nahen Park, haben die Bäume angeschaut, Blätter und Blüten gesammelt, getrocknet und zugeordnet. Meine durchaus vorhandene musische Ader konnte der damalige Unterricht aber nicht wecken, weil er sich zu sehr aufs Singen und Noten lernen konzentriert hat, das war nicht meine Sache. Insofern blieb mir der Zugang zur Musik bis etwa zum 16./17. Lebensjahr versperrt. Auch der Religionsunterricht, getrennt evangelisch und katholisch, war reines auswendig lernen und vorbeten, Inhalte habe ich da weitgehend keine erkannt.
Das Schuljahr ging damals von Ostern bis Ostern, Zwischenzeugnisse gab es Ende Oktober. Meine Zeugnisse waren durchweg sehr gut, in der ersten Klasse gab es nur eine Gesamtnote, später Einzelnoten für die Grundschulfächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen usw. Man erkennt für die ersten beiden Schuljahre die Unterschrift des Klassenlehrers Kowalke; in der 3. und 4. Klasse war Hr. Herrwerth unser Klassenlehrer. Damals waren noch viele Grundschullehrer Männer; das hat sich inzwischen zugunsten eines sehr grossen Anteils Frauen geändert. Ich war übrigens in der „a“, also 1a, 2a usw. Nach einer gewissen Zeit in der „d“ im Gymnasium bin ich zum Ende meiner Schullaufbahn dann wieder in die „a“ zurückgekehrt.
Einzelkind und Alleinverdiener – die Grenzen des einfachen Mannes
Obwohl ich die Eltern für meine Hausaufgaben nicht gebraucht habe, blieb die Mutter als Hausfrau zu Hause. Das führte beim Abendbrot öfter mal zu Diskussionen zwischen den Eltern, weil Mutter eigentlich ausgebildete Verkäuferin war und vor der Heirat mit Vater durchaus gearbeitet hatte (15 Jahre). Zudem wurde erkennbar, dass mit dem Geld des Vaters als Alleinverdiener keine grossen Sprünge zu machen waren. Jede Anschaffung musste mühsam erspart werden, sozusagen vom Mund abgespart, und das, obwohl Vater inzwischen vom Vorarbeiter zum Meister aufgestiegen war. Kein richtiger Meister mit Brief, aber ein Werkmeister eben. Und samstags hat er auch immer noch 4-5 Stunden bis Mittag gearbeitet. Wir hatten keine Schulden, das war bei den Eltern verpönt, ist aber heutzutage gar nicht mehr machbar. Aber, wie gesagt, jede Anschaffung musste mühsam erspart werden; das galt auch für meine Spielsachen. Ich war jedoch im Grossen und Ganzen zufrieden mit dem, was ich hatte, wenn mir auch bei Besuchen bei Spielkameraden schon das eine oder andere aufgefallen ist, was diese mehr hatten als ich. Aber das war in Bezug auf mich gar nicht so schlimm, eher habe ich den Unterschied bei den Eltern bemerkt. Andere sind schon mal in Urlaub gefahren, wir sind im Sommer immer nur zur Tante nach Oberfranken und zur Oma in die DDR gefahren. Andere hatten schon erste kleine Autos, das war für uns unerreichbar; der Chef meines Vaters hat ihn eines Tages gefragt: „Hr. Emmert, zahle ich Ihnen zu wenig? Sie sind mein einziger Meister, der noch kein Auto hat und mit dem Fahrrad kommt.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Erstens in Bezug auf unsere wirtschaftliche Situation, zweitens, wie sich damals Chefs (er war der Besitzer der Firma) um ihre Mitarbeiter gekümmert haben. Heute ist nahezu jeder Vorgesetzte erst einmal nur sich selbst verpflichtet…
Inzwischen hatte in K1 eine neue grosse Karstadt-Filiale eröffnet. Dorthin bin ich jeden Freitag-Nachmittag mit Mutter zum Einkaufen gegangen. Das war in 10-15 min bequem über die Kurpfalzbrücke zu Fuss zu erreichen. Hauptziel war zum Schluss immer die Lebensmittel-Abteilung, aber davor haben wir z.B. auch die Spielwaren-Abteilung im 4. OG besucht. Dort war insbesondere in der Vorweihnachtszeit immer eine grosse Modellbahn-Schauanlage zu besichtigen; der Aufwand wäre heute unbezahlbar. Irgendwo dort war auch eine kleine akustische Gitarre ausgestellt, die ich immer wieder sehnsüchtig angeschaut habe; sie hat, ich weiss es noch ganz genau, 35 DM gekostet. Auf meine vorsichtigen Anfragen habe ich immer zur Antwort bekommen, „das ist zu teuer, und dann brauchst Du Unterricht, das können wir nicht bezahlen“. So sind eben weitere 10 Jahre vergangen, bis ich mir diesen Wunsch schliesslich selbst erfüllt habe; die Jahre, in denen man gut lernt, blieben ungenutzt. Entsprechend musste ich mir dann später alles hart erarbeiten. Dabei habe ich dieses „Gen“ wohl vom Vater mitbekommen, der vor dem Krieg in einem Mandolinen-Orchester gespielt und dabei seine erste Frau kennen gelernt hatte (siehe Prolog). Was aus dem Thema Musik dann geworden ist, dazu später (einer der vielen Lebensbögen).
Wenn ich mich richtig besinne, wurde zu Weihnachten 1959 die Eisenbahn auf ein Brett gebaut, und zu der kleinen Zweifach-Kuppler Nebenbahn-Dampflok (B) kam eine BR24 (1C), eine Personenzug-Dampflok. Dieses sog. „Steppenpferd“ war vor dem Krieg vor allem auf den langen Nebenbahnen in Ostpreussen unterwegs. Insofern hatte meine Mutter auf ihrer Fahrt dorthin (siehe Prolog) wohl auch in einem Zug gesessen, der von einer solchen Lok gezogen wurde. Diese Gedanken kann ich aber nur heute entwickeln, denn das Schicksal meiner Eltern vor Gründung unserer Familie wurde vor mir weitgehend geheim gehalten (das Tabu-Schweigen der Kriegs-Generation). Ab 1960 (Neujahr war ja nur ein paar Tage später) war also meine „elektrische Eisenbahn“ auf einem Brett montiert. Soviel ich weiss, war das kurz vor meiner fast tödlich verlaufenden Lungenentzündung und ein viertel Jahr vor der Einschulung. Zur Einschulung kam die Tante (Schwester der Mutter) aus Oberfranken und hat mir eine grosse Schultüte geschenkt, die mir ansonsten meine Eltern nicht hätten kaufen können. Sie war meine eine Paten-Tante, die andere eine Freundin meiner Mutter aus der DDR, eine Gerlinde Wohlrab, genannt Tante Linde. Von der bekam ich zu Geburtstag und Weihnachten (war ja nahe beieinander) immer sehr gute Bücher geschenkt, die ich dann auch verschlungen habe, als ich lesen gelernt hatte. Das war bereits Weihnachten 1961 der Fall. Viele dieser Bücher habe ich noch heute. Das eine oder andere lese ich auch im Alter nochmal wieder. Sowohl Jugendliteratur als auch Sachbücher wurden in der DDR in exzellenter Weise erstellt.
Um 1960 gab es einige Veränderungen in meiner Familie. 1959 wurde Klaus, mein grosser Bruder, zum Wehrdienst bei der Bundeswehr eingezogen. Schon davor ging er mit seiner Fanny. Nach der Rückkehr vom „Kommiss“ – Bund hat man damals noch nicht gesagt – hat er sie geheiratet, nachdem er vorher zum katholischen Glauben konvertiert war. Ja, so war das damals, die katholische Kirche hat nur rein katholische Paare getraut! Weiss das heute noch jemand, wo man über die lächerliche Ehe für alle entschieden hat? Für mich sowas von daneben, eben genauso wie damals die rein katholische Ehe, beides lächerlich. Ich habe ja im Vorfeld gewarnt, dass ich nicht political correct schreiben werde. Diese political correctness ist nämlich wiederum genauso lächerlich….
Während Klaus‘ Abwesenheit bei der Bundeswehr in Koblenz hatten die Motten seine Bett-Matratze okkupiert. Die musste voller Würmer schliesslich entsorgt werden, ich weiss gar nicht mehr wie. Anschliessend wurde eine neue gekauft, und das Zimmer bekam jetzt ich. 5 m lang, 2-2,5 m breit, unbeheizt, also irgendwie nur ein Schlafzimmer, zumindest im Winter. Gewohnt wurde nur in der beheizten Wohnküche und im Wohnzimmer, wo, zumindest 1960, noch immer kein Fernseher stand, und also auch nicht von den Haus-Aufgaben ablenken konnte, die damals noch sehr umfangreich waren.
(Schul-)Freunde
Während ich bei den Spielsachen, insbesondere der Modellbahn, mit denen von Michael Grimminger nicht mithalten konnte, waren die Familien Selig und Strauss wohl eher unsere „Preisklasse“, ebenso Karlheinz Frank, während der Kontakt zu Franz-Josef Mayer eher nur sporadisch war. Dieter Strauss hatte einen (seltenen) Trix-Metallbaukasten, während so etwas einer, wenn überhaupt, nur von Märklin hatte. Ich auch! Pardon, eigentlich gehörte der noch Klaus, der ihn mir aber vermacht hatte. Ebenso seinen alten Atlas, auf dem es noch Länder wie Siam (Thailand) und Birma (Myanmar) gab. Ebenso wie West- und Ost-Pakistan (heute Bangladesch).
Bei Dieter Strauss war ich oft, das war nicht weit, seine Mutter mochte mich. Mit Karlheinz Frank habe ich wohl auch manchmal Hausaufgaben gemacht, seine Mutter war nicht zu Hause, hat gearbeitet. Bei Seligs war ich auch öfter, habe aber keine detaillierte Erinnerung mehr, was wir so alles gemacht haben; aber die generelle Erinnerung ist positiv. Freunde gab es auch ausserhalb der Schule, z.B. die Dworatzek-Jungs im Haus, die jünger waren, und Thomas Schlüssel aus dem Nachbar-Haus. Beide hatten Märklin-Bahnen, was mich immer wieder geärgert hat, wg. der fehlenden Kompatibilität, welche ich natürlich damals noch nicht verstanden habe (Hauptdifferenz: Wechselstrom versus Gleichstrom). Die Märklin-Modellbahn von Rolf Dworatzek hatte, sobald es sie gab, auch eine Faller AMS-Autorennbahn als Acht auf einem Berg integriert, unter der die Bahn im Tunnel verlief. Das könnte so um 1964-1966 gewesen sein. Ausserdem hatten sie einen Opa, der wohl einer der ersten N-Bahner war (Arnold, Minitrix). Dort gab es auch mal ein Unglück, als wir mit einer Wasserschüssel und Boten gespielt haben. Beim gemeinsamen Schütteln zum Erzeugen von Wellen ist die Schüssel auf den Boden gefallen und hat sich entleert. Rolfs Bruder Roland hat dafür fürchterlich Schläge bekommen, das hat mich richtig mitgenommen, denn verursacht hatten es eigentlich wir alle drei. Durch das viele Wasser auf dem Boden gab es natürlich auch anschliessend einen Wasserschaden an der Decke der darunterliegenden Erdgeschosswohnung. Das wurde einfach trocknen gelassen und dann neu geweisselt (Dispersionsfarbe war noch nicht erfunden). Heute würde man daraus einen Fall für die Privathaftpflicht-Versicherung und/oder Hausratsversicherung machen! Noch Fragen? Alle Wege zu den Freunden musste ich zu Fuss machen, allenfalls konnte ich den Roller nehmen, ein Fahrrad hatte ich nicht.
Und dann war da noch ein ganz spezieller Freund, der hiess so wie ich, wurde aber Jochen gerufen, also die Kurzform von Joachim. Wie es zu dieser merkwürdigen Freundschaft kam, weiss ich heute nicht mehr, aber sie war sehr interessant, ja sogar abenteuerlich. Jochen war oft bei seinen Grosseltern, der Familie Roos. Sein Grossvater, Hr. Roos, war der Bahnbetriebsleiter am sog. Weinheimer OEG-Bahnhof, der Endstation der schon vorher erwähnten Schmalspur-Pendlerbahn Richtung Weinheim/Heddesheim. Er war Herr über ein grosses Stellwerk und wir durften ihm öfter bei der Arbeit zusehen, was heute auch unvorstellbar wäre. Er erklärte uns die Funktion der Stellhebel, mit denen er die Weichen und Signale noch manuell schaltete. Und noch etwas anderes interessantes gab es: das Gebäude hatte eine Turmuhr. Diesen Turm haben wir über eine Holzklappleiter durch eine Luke immer wieder (verbotenerweise) bestiegen und uns dort aufgehalten. Erwischt werden durften wir nicht, sonst hätte es grossen Ärger (und Schläge) gesetzt. Ich will das nochmal klar und deutlich sagen, Schläge gehörten damals einfach zur (bürgerlichen) Erziehung, auch die Lehrer haben uns bis Mitte der 60er Jahre geschlagen, dann immer weniger. Wenn sich heute Gutmenschen, Alternative und Linksgrüne darüber ereifern und von Missbrauch sprechen, dann ist das einfach scheinheilig und zeugt von Unverstand für die geschichtlich-kulturellen Veränderungen…..
Die grosse Flut und „Sternstunden“ des Journalismus
Im Winter 1962 gab es in Nord-Deutschland eine Katastrophe, wie es sie heute wohl nicht mehr geben würde; das gleiche gilt für die Berichterstattung darüber. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 erreichte eine Sturmflut die deutsche Nordseeküste. Wettersatelliten waren noch ein Fremdwort, und die ganze Informationstechnologie steckte noch in den Kinderschuhen, so dass bedrohliche Wetterlagen nicht rechtzeitig erkannt werden konnten. Zudem gab es noch ein „verstecktes“ Problem. Die Nordsee-Deiche waren zwar hoch und sicher – sie hielten der Flut auch stand. Aber das Wasser drückte in die Unterläufe von Weser und Elbe, sowie ihrer Nebenflüsse; und die waren gar nicht, oder nur unzureichend gesichert. Das Wasser kam also „von hinten“ und sehr langsam, deshalb wurden viele Menschen davon im Schlaf überrascht. In Hamburg gab es einige Deichbrüche und Teile der Stadt liefen voll (Wikipedia: Sturmflut 1962). Organisationsmängel und Zuständigkeits-Wirrwarr erschwerten ein zielführendes Krisenmanagement, bis ein gewisser Helmut Schmidt, damals Innensenator von Hamburg, am Morgen des 17. Februar in der Einsatzzentrale erschien, sich selbst mit weitreichenden Vollmachten versah und von da an die Rettungsaktionen erfolgreich managte. Dabei setzte er sich auch bewusst über einige damals gültige Vorschriften hinweg, was den Bewohnern half und ihn selbst für höhere Aufgaben empfahl. Er wurde schliesslich später der 5. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und eine der Personen, die mich in meinem Leben zutiefst beeindruckt und geprägt haben. Eine der damals durchbrochenen Vorschriften war das Einsatzverbot der Bundeswehr/Nato für solche zivilen Katastrophenschutzeinsätze. Diese wurde später folgerichtig in das genaue Gegenteil verkehrt. Bundeswehreinsätze im Inneren zum Schutz der Zivilbevölkerung sind demnach heute geradezu Standard. Die Berichterstattung über diese Katastrophe war hingegen zeitbedingt nur sehr dürftig und schleppend. Am aktuellsten war das Radio, gefolgt von der Tageszeitung, die aber alles nur um mindestens einen Tag versetzt berichten konnte. Was damals im Fernsehen kam (nur ARD), kann ich nicht beurteilen, weil wir zu diesem Zeitpunkt noch keinen Fernsehapparat hatten.
In 1963 gab es 2 weitere Ereignisse, die maximale öffentliche Aufmerksamkeit erzeugten und auch entsprechende Medienaufmerksamkeit. Aber wie bereits gesagt, damals waren das hauptsächlich Radio und Printmedien, das Fernsehen steckte noch in den Kinderschuhen bzw. war noch nicht flächendeckend in der Bevölkerung verbreitet. So wie bei uns; 1963 hatten wir noch keinen Fernseher, aber es gab die ARD (das 1. Programm) und ab Juli 1962 auch das ZDF (das 2. Programm). Telefon (Festnetz) hatten nur wenige, Handy und Internet waren noch lange nicht erfunden. Entsprechend mussten natürlich auch bei Unglücken, Katastrophen und Verbrechen herkömmliche Funkgeräte eingesetzt werden, selbstverständlich analoge, das Wort digital kannte damals noch niemand.
Am 08. August 1963 wurde nördlich von London der legendäre Postzugraub verübt, mit einer für damalige Verhältnisse exorbitanten Beute von 2.631.684 £, umgerechnet ca. 30 Mio DM (Wikipedia: Postzugraub 1963). Natürlich haben wir das im Radio in den Nachrichten gehört und in der Zeitung gelesen. Aber eine super Zusammenfassung oder auch Story daraus lieferte der „Stern“ (Henry Kolarz) unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“. Der Titel zielt darauf ab, dass die Räuber gentlemanlike aufgetreten sind, keine Gewalt angewendet und alle ein völlig normales (Doppel-)Leben geführt haben. Ich habe damals den Stern verschlungen und mir später, viel später die DVD gekauft. Diese wurde aus dem 1966 vom NDR produzierten Spielfilm (3-Teiler) erstellt, den wir auch einige Jahre später im Fernsehen anschauen konnten, weil wir da schon ein Gerät hatten. Interessant sind die beiden Darsteller der Hauptprotagonisten, beide werden später Ruhm als Serien-Kommissare einheimsen. Horst Tappert spielt den Gangsterboss und wird später als „Derrick“ bekannt, Sigfried Lowitz spielt den Kommissar und wird später als „Der Alte“ bekannt. Beides Krimi-Serien im ZDF, die Verfilmung des Postraubes wurde aber vom NDR (Mitglied der ARD) nach Vorlage/Drehbuch des „Stern“-Autors Henri Kolarz durchgeführt. Das Begleitbuch zur DVD gibt über den Film hinaus Auskunft über das weitere Schicksal der Posträuber.
Das zweite Ereignis fand am 24. Oktober 1963 statt, ein Grubenunglück in Niedersachsen. Die Rettung von 11 Bergleuten nach 14 Tagen aus der überfluteten Eisenerzgrube bei Lengede-Broistedt ging als das „Wunder von Lengede“ in die Geschichte ein. Auch diese Story wurde vom „Stern“ in exzellenter Art und Weise journalistisch aufgearbeitet, auch das habe ich verschlungen. Zwar haben NDR und ZDF von dort berichtet, aber da wir noch kein Fernsehen hatten, waren wir auf Radio und die Printmedien angewiesen. Überhaupt muss man sagen, dass der „Stern“ in den 60er Jahren unter Chefredakteur Henri Nannen ein Spitzenprodukt war und gerade die Reportagen und Storys, wie die beiden oben genannten, zu den absoluten Stärken gehörten. Man brauchte dazu neben gutem Deutschen Journalismus auch super Fotografen, die die zugehörigen Bilder schossen. Etwas im Computer zu skizzieren war damals schlicht noch nicht möglich, und Fotos wurden auch noch auf ganz normalem, (analogen) chemischen Film geschossen, Nachbearbeitung ausgeschlossen. Das musste sitzen, wenn auch vielleicht mit vielen Versuchen, die die Profis von den Amateuren unterschieden. Aber die Fotos waren real und authentisch, kein Verdacht auf „fake news“ wie heute, wo man nie sicher sein kann, ob ein Foto nicht entsprechend der gewünschten Botschaft nachbearbeitet wurde…..
Tod der Grosseltern, ein Enkelkind und die Amis richten sich in Mannheim ein
Meinen Grossvater väterlicherseits habe ich nie kennengelernt, der war wohl schon vor meiner Geburt tot, die Oma wohnte ja allein und hat uns alle 4 aufgenommen (Vater, Mutter, Klaus und dann noch mich). Diese Oma ist dann um 1960 herum an Krebs erkrankt und nach meiner Erinnerung recht schnell gestorben, das Grab haben wir dann ab und zu auf dem Mannheimer Hauptfriedhof besucht.
1960 haben mein Bruder Klaus und seine Fanny geheiratet, im November 1961 kam ihr Kind Christine zur Welt, meine Nichte und das erste Enkelkind meiner Eltern. Anfangs haben sie noch im nördlichen Vorort Gartenstadt gewohnt (in der Strasse „Starke Hoffnung“), dann sind sie nach etwa 2 Jahren ganz in unsere Nähe gezogen, in eine Dachwohnung in der Eichendorff-Str. 13. Wir hatten also nicht weit zueinander. Klein-Christine war daher öfter mal bei den Grosseltern (also meinen Eltern) und umgekehrt waren Klaus und Fanny auch mal eine ganze Weile meine Pflegefamilie, weil Mutter zu ihrem schwer krebskranken Vater in die DDR gefahren ist, also mein Opa mütterlicherseits. Opa und ich hatten, so klein ich war, nie einen Draht zueinander gefunden, ich mochte ihn nicht. Er war – ganz die damalige Zeit – ein herrischer Patriarch, der nur seine Meinung gelten liess; das haben ihm auch die Sozialisten nicht ausgetrieben. Interessant war seine Arbeit. Er hatte eine grosse Glaserwerkstatt und besass dazu noch 2 Mietshäuser, die den Hof mit der Werkstatt einrahmten. Es gab 3 Werkstatträume; im ersten, dem grössten, wurde der Holzzuschnitt gemacht, in einem anderen die Glaszuschnitt-Arbeiten, und in einem mittel-grossen die endgültige Fenstermontage. Das war interessant, aber wie gesagt, er war ein Patriarch, und für Max Brückner, so war sein Name, zählte nur seine Meinung und sein Wille. Selbst seine durchaus resolute Frau, meine Oma Else Brückner, hatte wenig zu melden. Die Tochter, meine Mutter Ilse, noch weniger, und ein Enkelkind hatte einfach zu funktionieren und die Klappe zu halten. Wohlgemerkt in der DDR, wo so etwas durchaus nicht üblich war, ganz im Gegensatz zum kapitalistischen Westen.
Opa war starker Raucher, rauchte immer grosse Zigarren, sogar bei der Arbeit. Auch hier wieder: heute unvorstellbar: Sicherheitsvorschriften, Brandschutz! Aber das wurde ihm schliesslich zum Verhängnis, er bekam Kehlkopfkrebs, wurde zunächst operiert und konnte nur noch mit einem Gerät wie eine Maschine sprechen. Nachdem Mutter nach langen Wochen dann endlich wieder heimkam, musste sie relativ schnell 1963 wieder zu seiner Beerdigung abreisen, dann ziemlich Hals über Kopf, wenn man bedenkt, dass man damals nicht einfach mal in die DDR reisen konnte, sondern das vorher beantragt werden musste. Aber im Todesfall ging es doch relativ schnell, wenn auch nicht auf der gewohnten Route mit der Eisenbahn über Würzburg, Bamberg, Hof nach Reichenbach. Mutter musste einen anderen Weg über Bebra und Gera wählen, zurück weiss ich nicht. Diesmal wurde ich nicht ausquartiert, sondern blieb die paar wenigen Tage mit dem Vater allein, der wohl keine schnelle Einreise in die DDR bekommen hatte. Das Thema Reisen in die DDR wird weiter unten noch ausführlich behandelt, Mutter kam schnell zurück, und Oma musste jetzt in Greiz ziemlich viel als alte, starke Frau managen. Soweit ich das überblicke, hat sie das gut gemacht; eine Alice Schwarzer könnte sich daran mal ein Beispiel nehmen…..
In den 60er Jahren erreichte der Kalte Krieg, die Konfrontation zwischen Ost und West, die sich nach dem Krieg im Laufe der 50er Jahre ausgebildet hatte, ihre ersten Höhepunkte. Nachdem Stalins Vorschlag eines vereinten, aber neutralen Deutschlands von den Amis abgeschmettert worden war, lief alles auf eine Teilung Deutschlands hinaus, die schliesslich mit der Gründung der BRD im Westen und der DDR im Osten 1949 manifestiert wurde. Das führte 1952 zum Bau einer über 1.300 km langen Grenzanlage zwischen den beiden Staaten, die sich danach beidseitig argwöhnisch beobachteten und ausspionierten. Im Westen wurde die Nato gegründet, im Osten der Warschauer Pakt. Die beiden Militärbündnisse standen sich auf deutschem Boden bis auf wenige 100 m gegenüber. Der Bau der Berliner Mauer 1961 und die Kuba-Krise 1962, beides in der Amtszeit von US-Präsident John F. Kennedy, brachten die Welt 2 Mal an den Rand eines neuen Weltkrieges, und die Amerikaner dazu, ihre Präsenz in Deutschland nochmal deutlich zu erhöhen. Mannheim war ein grosser Standort der Amerikaner, mit bis zu 9.000 Soldaten und 5.000 zivilen Bediensteten. Im Nordosten von Mannheim entstand eine reine Amerikaner-Siedlung, Benjamin-Franklin-Village, für mehr als 20.000 Bewohner (Soldaten und Angehörige). Die Amerikaner waren in Mannheim allgegenwärtig. Anfangs als Besatzer wahrgenommen, veränderte sich das Bild in den 60ern. Der Dollar-Sold von tausenden Amerikanern brachte bei einem Wechselkurs von 1 $ = 4 DM eine enorme Wirtschaftskraft in die Stadt. Die Schattenseiten waren die schon vorher erwähnten Besatzer-Kinder (aber das war hauptsächlich ein Thema der 50er Jahre), importierte Kriminalität (die von der deutschen Polizei zusammen mit der amerikanischen MP bekämpft wurde), viele Militärfahrzeuge, die die Strassen kaputt gemacht haben, und die „Wegnahme“ der deutschen Girls (Mädchen). Die Amerikaner waren aufgrund des starken Dollars und der insbesondere Schwarzen nachgesagten Sex-Kraft bei den am besten aussehendsten Mädchen in Mannheim erste Wahl; da hatten deutsche Jungs wenig zu bestellen. Auch dadurch ist ein gewisser Neid entstanden, der sich später im Anti-Amerikanismus der 70er und 80er Jahre entlud. Der ging damals hauptsächlich von Männern aus, und ich denke, dass das Verhalten der deutschen Mädchen in den 50er und 60er Jahren dazu beigetragen hat….
Reisen in die DDR und was uns „Tannbach“ lehrt
Die erfolgreiche Serie „Tannbach“ des ZDF, mit inzwischen 2 Dreierstaffeln, behandelt in dramaturgisch aufbereiteter Form mit kleinen Familiengeschichten das Schicksal eines zwischen der DDR und der BRD geteilten Dorfes und ist in der 2. Staffel in den 60er Jahren angekommen; über die ist ja auch hier die Rede. Und ich kann sagen – aus eigener Erfahrung – ja, es stimmt, wie alles dargestellt wird. Vorbild für das Filmdorf ist der oberfränkische Ort Mödlareuth, der auf beiden Seiten des Tannbachs und damit zur einen Hälfte in Thüringen (Sowjetische Besatzungszone, später DDR) und zur anderen in Franken/Bayern (Amerikanische Besatzungszone, später BRD) liegt. Der Tannbach bildet also die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, deshalb wird später auch hier eine Mauer errichtet, mitten durchs Dorf, wie in Berlin, weshalb das Dorf den Beinamen „Little Berlin“ erhielt. Tannbach alias Mödlareuth liegt nicht weit entfernt vom Wohnort meiner Tante in Streitau/Oberfr. (später Ortsteil von Gefrees), zudem sind wir noch näher daran vorbei gekommen, wenn wir bei Gutenfürst (Nähe Hof/Oberfr.) die Grenze überquert haben. Ich habe Tannbach/Mödlareuth selbst nie gesehen, aber dennoch vieles, was dort passiert ist, irgendwie doch auch erlebt.
Wie schon erwähnt, sind wir leider nicht wie andere Familien im Sommer nach Österreich oder Italien gefahren (das wäre auch ohne Auto durchaus möglich gewesen), sondern jedes Jahr in den grossen Ferien 3-4 Wochen zu den Grosseltern, später nur noch Oma, in die DDR. So richtig bewusst wurde mir das etwa mit 5-6 Jahren, also um 1959. Zunächst ging es immer erst zur Zwischenstation bei meiner Tante in Streitau (Gefrees). Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und war mit ihrem Mann und den 2 Kindern Eberhard und Christel auch noch rechtzeitig in den Westen gegangen, bevor es zu spät war. Das wird ja in „Tannbach 3“ deutlich aufgezeigt, als wegen der vielen Republikflüchtigen die Grenze dichtgemacht wird, zunächst nur mit einem Bretterzaun. Mutter brauchte damals zur Ausreise die offizielle Verlobung, die es zu der Zeit noch gab, und die Bestellung des sog. Aufgebotes beim Standesamt. Mit diesen Papieren konnte sie noch 1952 legal ausreisen. Wer illegal ausgereist war, konnte lange nicht mehr zurück, weil Verhaftung drohte. Die Textilfirma, bei der Onkel Erwin, der Mann von Tante Hilde, als Prokurist gearbeitet hat, die Weberei Günther, war schon Ende der 40er Jahre von Greiz ins nicht weit entfernte Oberfranken umgezogen, als die erste Enteignungswelle rollte (siehe Tannbach 2). Somit lebte die Familie von Tante Hilde jetzt ebenfalls im Westen, wenn auch nicht weit entfernt von der Grenze. Ihre beiden Kinder waren im Alter meines grossen Bruders und waren ebenfalls schon verheiratet oder verlobt.
Der Weg zur Tante war in jedem Sommer der gleiche, Vater hat sich das Kursbuch der deutschen Bundesbahn gekauft, mitsamt der Streckenkarte; beides könnte heutzutage kein Mensch mehr lesen. Aber das Ergebnis war immer das gleiche: der Eil-/Schnellzug Saarbrücken/Kaiserslautern nach Hof, in späteren Jahren „Frankenland“ genannt. Heute muss man umsteigen, damals gab es Kurswagen, die umgehängt wurden. Das machte den Verkehr langsamer, erhöhte die Standzeiten an den Knotenbahnhöfen. Auf unserer Strecke waren das Würzburg und Bamberg. Der Vorteil war: wenn man im richtigen Wagen sass, konnte man sitzen bleiben. Die Reise musste immer weit im Voraus geplant werden, Oma musste den Besuch beantragen und eine Einladung schicken.
Der Zug kam aus Kaiserslautern, später Saarbrücken, Abfahrt in Mannheim war 8:00 Uhr; er kam mit einer E10, die bis Heidelberg an der Spitze des Zuges verblieb und dort gegen eine V200 getauscht wurde, weil die Neckartalstrecke und im weiteren Verlauf die Strecke nach Würzburg noch nicht elektrifiziert waren. In Würzburg wartete der Zug ca. 1,5 h (!) auf einen Schnellzug Wiesbaden-Nürnberg, um 2 Kurswagen dieses Zuges nach Hof zu übernehmen. Es ging unter Fahrdraht in Würzburg trotzdem mit Diesel und einer weiteren V200 weiter Richtung Schweinfurt/Bamberg; diese Strecke war ebenfalls nicht elektrifiziert. In Bamberg machte der Zug wieder Kopf, hatte wieder einen langen Aufenthalt von ca. 30 min. und bekam dann eine E10 vorgespannt. Mit der raste er dann mit ca. 140 km/h nach Lichtenfels. Dort gab es schliesslich eine Schnellzug-Dampflok der Baureihe (BR) 01 oder 18, und es ging weiter Richtung Hof, für uns aber nur bis Neuenmarkt-Wirsberg, wo heute ein Dampflok-Museum steht. Inzwischen zeigte die Uhr nahe 16 Uhr an, ich glaube etwa 15:45 Uhr. Als die Jungs von Tante Hilde, Sohn Eberhard und Schwiegersohn Abo, Autos hatten – und das war Anfang/Mitte der 60er der Fall – holten sie uns in Neuenmarkt-Wirsberg am Fuss der „Schiefen Ebene“ ab. Wie die Bahnstrecke weitergeht und sich die grossen Dampfloks diese enorme Steigung hinaufgequält haben, kann man hier sehen; das Video stammt allerdings von einem Dampfloktag im Jahr 2014. Wir fuhren damals die restlichen 20 km mit dem Auto bis nach Streitau, einem 500-Seelen-Dorf, wo das Leben so ganz anders war als in der Stadt. Eberhard hatte Anfang der 60er-Jahre einen Ford Taunus 12M, Abo später einen VW-Käfer 1500. Die Familie der Tante gehörte im Dorf zu den „wichtigen Leuten“ und wurde daher andauernd mit dem dort üblichen, fränkischen „Grüss Gott“ gegrüsst. Der Mann von Tante Hilde, der viel älter war als sie, war als Prokurist des ansässigen Textilunternehmens Günther ein angesehener Mann. Die Firma hatte sich, wie bereits erwähnt, noch rechtzeitig aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) / DDR abgesetzt, um nicht verstaatlicht zu werden. Wirtschaftlich war aber das dortige sog. Zonenrandgebiet nicht überlebensfähig und musste durch staatliche Subventionen gestützt werden. Es fehlte einfach völlig das Hinterland, nur ländliches Gebiet, wenig Menschen, keine Kaufkraft. Entsprechend war das Leben dort auch deutlich billiger als in der Grossstadt Mannheim. Wir sind dort sonntags mit beiden Familien immer Essen gegangen; das war sehr viel billiger als bei uns und dadurch auch bezahlbar. Ein Schweine- oder Rinderbraten mit Klössen und Salat kostete z.B. 3 oder 4 DM. Interessant war aber noch ein anderes Phänomen, welches sich nach dem Mauerbau noch verstärkte, als Berlin zu einer umzäunten Insel in der DDR wurde. Die betuchten Berliner kauften dort, wo die Transit-Autobahnen im Norden, Westen (A2) und Süden (A9) die Bundesrepublik erreichten, billig Grund und Boden und bauten sich „Wochenend-Häuser“, in denen sie sich an vielen Wochenenden oder im Sommerurlaub aufhielten. Der Radiosender RIAS (Radio Im Amerikanischen Sektor) Berlin hatte deswegen auch eine Sendestation in Hof. Auch die Gegend südlich von Münchberg bei Streitau gehörte zu den besagten Gebieten; wichtig war eine nahe gelegene Autobahn-Ausfahrt. Wo diese vorhanden war (bei Streitau war das die Ausfahrt Gefrees), war das sozusagen eine Garantie für zusätzliche Einnahmen, denn die wohlhabenden Berliner haben natürlich dort Geld gelassen, durch Grundstückskauf, Bau der Häuser, Einkaufen, Essen gehen, sowie vergebene Hausmeister- und Putzdienste während ihrer Abwesenheit. Der Mauerbau hatte eine enorme Auswirkung auf das Leben hüben wie drüben, die Teilung Deutschlands wurde beschleunigt vertieft, die Menschen auf beiden Seiten entfremdeten sich rapide, was noch heute, fast 30 Jahre nach dem Mauerfall zu spüren ist. Diese Entfremdung ist auch in Tannbach 3 gut wiedergegeben.
Die beiden sonntäglichen Essen – auf Hin- und Rückfahrt – haben wir immer schön auf die beiden ortsansässigen Metzgereien mit angeschlossener Gaststätte verteilt. Auf dem Hinweg meistens Nüssels, auf dem Rückweg Försters. Während der zwei kurzen Aufenthalte ging Vater mit mir meist durch die schöne, aber einsame Landschaft in Oberfranken wandern. Als ich dann schon lesen konnte, habe ich mir auch mit Büchern die Zeit vertrieben. Dabei habe ich u.a. ein Buch vom Onkel entdeckt, ein früher Science Fiction Roman aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Detatom, von Paul Eugen Sieg. Die Ideologie hielt sich in Grenzen, aber zu lesen war es für mich ungemein schwer. Das Buch war nämlich in Sütterlin(Fraktur)-Schrift gedruckt; diese Schriftart hatte auch meine Mutter noch in der Schule gelernt, und sie unterschied sich, vor allem in Schreibschrift, teilweise recht deutlich von der heute verwendeten lateinischen Schrift. Das Buch habe ich nach dem Tod von Onkel Erwin von ihm geerbt und besitze es noch heute.
Die Reiseunterbrechung auf dem Hinweg war meistens vom Samstag (Ankunft bei Tante) bis Dienstag. Dann sind wir ab Münchberg weiter gefahren. Auf dem kleinen Bahnhof der nördlich von Streitau gelegenen Kreisstadt trafen um die Mittagszeit innerhalb einer Viertelstunde der Eilzug zurück nach Hause (13:15 Uhr Richtung Saarbrücken) und die beiden Interzonenzüge von und nach Hof (13:25 Uhr) ein, alle dampfbetrieben mit mächtigen 01ern. Die Interzonenzüge wurden gemeinsam von der Bundesbahn (DB) und der Reichsbahn (DR) betrieben. Der von uns benutzte war der Interzonenzug München – Dresden, mit dem Seitenast Nürnberg – Dresden. In den letzteren stiegen wir ein, die entsprechenden Kurswagen wurden in Hof zu einem Zug vereint, maximal 12 Wagen. Der wurde dort anfangs von einer DR Dampflok (BR01), später von einer DR Diesellok (118 oder 120) abgeholt. Der Lokführer war ein linientreuer DDR-Bürger, meist mit Familie, so dass seine eventuelle Flucht kein Thema war. Der im Münchner Zugteil eingestellte Mitropa-Speisewagen war von der DR und wurde mit DR-Personal betrieben, die Reisezugwagen waren Schnellzug-Abteilwagen der DB.
Erster Halt des vereinigten Interzonenzuges nach seiner Abfahrt aus Hof (14:00 Uhr) war der Grenzbahnhof Gutenfürst, wo die Reisenden ca. 1 Stunde lang von verschiedenen Institutionen (Grenzschutz, Zoll, Einreisebehörde) schikanösen Kontrollen unterworfen wurden, z.B. mussten alle „West-Druckerzeugnisse“ abgegeben werden. Besonders „beliebt“ waren Bild-Zeitung, Stern und Spiegel. Zudem musste bei der Einreise in die DDR ab Nov. 1964 ein bestimmter Betrag DM pro Tag in Mark der DDR umgetauscht werden. Das bespreche ich aber weiter unten bei der 1968er DDR-Reise.
Sobald man über der Grenze war – die Grenzsicherungsanlagen hatte man bereits vor Gutenfürst durchfahren – war alles ganz anders. Ja, die DDR „roch“ sogar anders; das ist aber erklärbar, denn die DR-Dampfloks fuhren mit Braunkohle. Ein Braunkohlerevier, sogar ein sehr grosses, hatte die DDR in der Lausitz selbst, Steinkohle musste gegen harte Devisen eingeführt werden und war teuer. Braunkohle hat aber andere Beimengungen, u.a. Schwefel, was einen anderen Verbrennungsgeruch erzeugt. Da auch viele Heizöfen mit der viel billigeren Braunkohle befeuert wurden, lag eben ein anderer Geruch über dem Land, besonders im Winter. Da wir fast immer in den grossen Ferien im Sommer „drüben“ waren, waren es da eben hauptsächlich die Dampfloks. Aber da war man ehrgeizig: die DR hat schneller als im Westen Dampfloks auf Ölhauptfeuerung umgestellt, und dann auch Mitte der 60er-Jahre Dieselloks eingesetzt, bis die Ölkrise Mitte der 70er-Jahre diese Planungen über den Haufen warf. Die erste Grossdiesellok, die DR V180 (später 118) kam noch aus Berlin (Lokomotivbau Karl Marx Babelsberg, LKM), die danach beschaffte, etwas stärkere dieselelektrische DR V200 (später 120, Spitzname „Taigatrommel“) war sowjetischer Bauart und kam aus Woroschilovgrad, dem heutigen Lugansk in der Ukraine. Übrigens wurde im August 1961, kurz vor dem Mauerbau, in Sinelnikov, einem Eisenbahn-Knotenpunkt in der Südukraine (damals Sowjetunion) ein kleines Mädchen geboren, welches für mein späteres Leben noch einmal sehr wichtig werden würde…..
In jenem Jahr waren wir während des Mauerbaus auch in der DDR, und die Eltern und Grosseltern (Opa lebte da noch) recht besorgt, ob wir überhaupt wieder zurück nach Mannheim kommen würden. Doch zurück zur „normalen“ Reise in die DDR, die nach der endlosen Kontrolle in Gutenfürst über die hügelige Landschaft des Vogtlandes weiter nach Plauen ging, wo dann auch DDR-Bürger in den Zug einsteigen konnten. Wir hatten dann nur noch eine Station: über die grossen Vogtlandbrücken aus Ziegelsteinen nach Reichenbach. Die Elstertalbrücke (68m hoch, 279m lang) und die Göltzschtalbrücke (78m hoch, 574m lang) sind die beiden grössten Ziegelsteinbrücken der Welt und in der Bauweise römischer Aquädukte errichtet.
In Reichenbach wurden wir abgeholt, entweder von Oma im Taxi oder vom Taxifahrer allein, einem Hrn. Gottesmann. Da hat dann die DDR gleich nochmal anders „gerochen“, weil nämlich die meisten Automotoren 2-Takter waren, die ja bekanntlich einen intensiven Verbrennungsgeruch verbreiten, so ein bischen nach Gas. Hr. Gottesmann hatte in den ersten Jahren einen Wartburg, später einen Trabant und brachte uns die letzte Wegstrecke nach Greiz. Auf einer der 2 möglichen Routen fuhr man sogar unter der mächtigen Göltzschtalbrücke, die wir vorher mit dem Zug bereits überquert hatten, nochmal hindurch. In den Jahren als Opa noch lebte, erwartete der uns Zigarre rauchend unter der Tür seiner Werkstatt zu Hause. Das Haus stand (und steht immer noch) am Pohlitzberg (Nr. 56); das war eine unbefestigte Steilstrasse, die man damals nicht befahren konnte, höchstens von oben kurz rein, Fahrgäste aussteigen lassen und nach oben die kurze Strecke wieder raus. Kurz nach 17 Uhr war hiermit das Ende der kurzen Reise von der Tante erreicht, nur so etwa 4 Stunden, wovon eine mit den Kontrollen am Grenzbahnhof Gutenfürst vergeudet wurde; was auf dem Rückweg noch schlimmer war, denn es galt ja mögliche „Republikflüchtlinge“ aufzugreifen. Dafür wurden dann auch schon mal die Tonnendächer der Schnellzugwagen von innen aufgeschraubt….
Leben in der DDR
Diese 3,5 Wochen in der DDR waren immer irgendwie anders. An sich ist das normal, wenn man in ein anderes Land in Urlaub fährt, aber das hier war Deutschland! Nur eben die andere Hälfte. Das ging los mit dem Essen und Trinken. Kaffee gab es nicht, oder unerschwinglich teuer. Den haben die Eltern mitgebracht und unter dem Jahr in den sog. „Fresspaketen“ geschickt. Insofern war auch für die Grosseltern der Besuch von uns ein Ereignis. Ich weiss nicht, was die Eltern noch an westlichen Gaumengenüssen mitgebracht haben; es waren oft einfache Dinge, die es aber eben in der Mangelwirtschaft der DDR nicht oder nur selten gab, wie z.B. Bananen, Zigaretten und natürlich Zigarren für Opa. Natürlich hatten wir auch noch für Freunde, wie z.B. besagte Gerlinde Wohlrab, die mir die Bücher geschickt hat, etwas dabei.
Also gab es, wenn wir da waren, zum Frühstück Kaffee, natürlich nicht für mich. Für mich hatte Mutter immer eine Dose Nesquik dabei. Das habe ich sogar noch als Student getrunken. Zum Kaffee trinken kam ich erst sehr spät. Die Brötchen und die Marmelade waren aber gut und sehr vergleichbar. Die Läden waren anders als bei uns, rochen anders, waren sehr leer; es gab vieles nicht. Das Bier war schwarz und die Limonade hiess auch so (nicht Fanta, Frischa oder ähnlich). Oft habe ich auch Sirup mit Mineralwasser getrunken, etwas, was in den 60ern im Westen langsam aus der Mode kam. Gemüse gab es, Fleisch war offensichtlich teuer. Nudeln und Kartoffeln waren wohl immer und preisgünstig zu haben. Überhaupt die Preise; die waren niedriger als im Westen, und bezahlt hat man mit der (Ost-) Mark, für mich war das damals unverständlich. Eine Wohnung wurde für ca. 20 Mark vermietet, schon damals ein Riesenunterschied zum Westen. Der blaue 100 Mark-Schein mit dem Konterfei von Karl Marx war ebenso wie der grüne 20er mit Goethe sehr dem Westgeld nachempfunden, aber nur ein Drittel wert, später sogar noch weniger. Der relativ viel benutzte 10 Mark-Schein sah hingegen ganz anders aus. Genau wie zu Hause wurde ich auch in Greiz öfter zum Einkaufen geschickt, am Anfang hatte ich etwas Bammel, weil alles fremd war, später habe ich es ganz gern gemacht, weil ich mich mit den Jahren an die „anderen Verhältnisse“ gewöhnt hatte. Kaffee und Zigaretten waren die „alles möglich machen Währung“ in der DDR, auch Opa hat immer auf die guten Westzigarren gewartet. Ebenso wie im Westen haben damals fast alle Männer noch geraucht, Frauen eher nicht, das war verpönt. Vater hatte schon lange aufgehört, Mutter nie geraucht, insofern hatten wir ein rauchfreies Zuhause, abgesehen davon, dass Klaus geraucht hat, aber selten und oft draussen. Wenn dann Opa Zigarre qualmend an seinem Schreibtisch sass, war das ein ganz seltsames Ereignis für mich, aber nicht schlecht. Die guten Zigarren verströmten eigentlich einen ganz angenehmen Geruch. Wenn er nur nicht so viel geraucht hätte, dann hätte er vielleicht noch ein wenig länger gelebt. Insofern war mein Opa schon ein Beleg dafür, dass zumindest starkes Rauchen Krebserkrankungen fördert. Möglicherweise war das sogar bei meinem viel weniger rauchenden Bruder auch der Fall….
Dann die Medien: Zeitung, Radio und Fernsehen, mehr gab es noch nicht. Noch das Telefon mit Schnur im Gang; das hatten die Grosseltern, weil sie Geschäftsleute waren. Das hatten sie uns im Westen voraus, und den Fernseher, den sie früher als wir hatten. Halt ein kleiner Röhrenapparat, typisch für die damalige Zeit, aber immerhin. Und mit 2 Kanälen: das Ostprogramm und die westliche ARD; das ZDF gab es erst ab 1962. An sich war der Empfang von Westprogrammen verboten, wie mir ein „Ostfreund“, Hartmut Vorwieger, ein Junge in meinem Alter, im Brustton der Überzeugung erzählte. Seine Eltern waren Lehrer und linientreu, wie man so schön sagte. Ob sie es wirklich so gehalten haben, bleibt für immer ihr Geheimnis. Die meisten grenznahen Sender im Westen waren speziell für die Ausstrahlung nach Osten ausgelegt. Im grenznahen Fichtelgebirge war das der Sender Ochsenkopf, der gezielt asymmetrisch ausgestrahlt hat, in Form einer Keule, die in die nahe gelegene DDR gezielt hat. Zwar hat die DDR versucht, mit Störsendern dazwischen zu funken, aber bei den Grosseltern hatten wir einwandfreien West-Empfang; ganz im Gegensatz zum „Tal der Ahnungslosen“ hinten bei Dresden, wohin kein Westsender reichte. Aber das Gemisch aus Ost- und Westleben und Information hat mich als Junge ziemlich verwirrt, zumal es mir keiner richtig erklären wollte. In der Zeitung kein Westfussball, keine Bundesliga, als es sie ab 1962 gab, dafür DDR-Oberliga, mit Vereinen, die ich überhaupt nicht kannte. Auch sonst keinerlei Information über die Welt, wie ich sie so kannte, dafür jede Menge „Ostideologie“, Berichte über „Pioniere der Arbeit“ und 5 Jahres-Wirtschaftspläne, Dinge, die ich von zu Hause aus der Zeitung gar nicht kannte. Und immer wieder deutsch-sowjetische Freundschaft, sogar eine Strasse gab es, aber damit konnte ich überhaupt nichts anfangen. Erst sehr viel später habe ich diese Propaganda und „Volksbeeinflussung“ verstanden. Wir im Westen wurden von den Amis indoktriniert, die Deutschen im Osten, in der DDR, von den Sowjets. Ich sehe heute beides gleich kritisch und verurteile es.
Nachkriegsbaustellen gab es in der DDR länger als im Westen; in den 60ern gab es noch viele „Sandhaufen“ zum Spielen, da war das in der Bundesrepublik schon weitgehend erledigt. Oben am Pohlitzberg, oberhalb des Hauses der Grosseltern wurde eine neue Umgehungsstrasse gebaut, die weiter oben auch ein Neubaugebiet erschloss, wo meine Patentante Linde mit ihrer Familie hinzog. Über die zuführende Schmidtstrasse brummten und keuchten die Busse hoch, Ikarus-Busse aus der CSSR. Vor und während dem Bau dieser Strasse gab es die berühmten Spielsandhaufen, wo ich mit mehreren Jungs aus der Umgebung gespielt habe. Nur hatten die anscheinend den „Wessie“ schon ausgemacht und mich beim Spielen bestohlen. Einer unserer Nachbarn in Mannheim, der Vater der einen Ingrid, hat beim „Benz“ gearbeitet und eines Tages uns Kindern (seinen eigenen und mir) je einen Kasten mit 1:87 Plastikmodellen der Mercedes-Benz Modellpalette mitgebracht. Vom 200D-Taxi über den 230SL bis hin zu Post- und Feuerwehrautos, sogar mit einem Abschlepper und einem Kranwagen. Die habe ich nach Greiz mitgenommen und wollte dort damit spielen. Nur verschwand „komischerweise“ immer ein weiteres Auto im Sand…. Ich habe dann immer geplärrt und bin nach Hause; es ist aber immer wieder vorgekommen. Ich weiss heute, dass mich die DDR-Jungs gezielt bestohlen haben. Irgendwie verständlich, aber für den Westjungen auch nicht schön. Drüben haben wir mit dem Vater auch Modellautos gekauft, z.B. einen Wartburg oder einen Robur-Bus. Das waren dann wieder Fahrzeuge, die die Jungs im Westen bestaunt haben, aber dann auch schnell wieder ignoriert. Ganz im Gegensatz zu den Ost-Jungs, die eben die Mercedes-Modelle geklaut haben.
In der einen Parterre-Wohnung im Haus der Grosseltern wohnte die sog. „Schmidts-Mutter“, zu der die Mutter eine ganz besondere Beziehung zu haben schien, geblickt habe ich das nicht. Bis ich später registriert habe, dass diese Frau ihre erste Schwiegermutter war, die Mutter ihres ersten Mannes, des Offiziers Fred Schmidt aus Ostpreussen. Er war gefallen, die Eltern wurden von ihrem Gut vertrieben, der Vater ist dabei oder später gestorben, und Mutters Eltern hatten den mittellosen Geflüchteten sozusagen Asyl gewährt. Etwas ganz anderes als heutzutage, wenn ein Ghanaer aus einem eigentlich vorbildlichen Afrikanischen Staat kommt und „Asyl“ schreit….
Das Haus der Grosseltern war schon alt und noch im vorigen Jahrhundert, also 18XX, gebaut. Entsprechend waren die Installationen auf einem Uralt-Zustand, an dem auch der Opa als Handwerker nichts geändert hat. Er hat nur seine Fenster gemacht, und war, wie schon vorher beschrieben, stur und nur auf „seine“ Dinge fixiert. Entsprechend gab es noch keine Toilette mit Wasserspülung. Die Plumpsklo-Toilette war eine halbe Treppe tiefer mit Zugang vom Treppenhaus. Vermutlich gingen da auch andere Leute drauf, das habe ich damals nicht unbedingt verstanden. Nur wollte ich auf diese beissend stinkende Toilette eigentlich gar nicht gehen und hatte daher z.T. 3 Tage lang keinen Stuhlgang, was wiederum die Eltern ziemlich umgetrieben hat.
Vater ging mit mir oft auf grosse Wanderungen, damit ich Abwechslung hatte, z.B. zum „Weissen Kreuz“ oder zum „Pulverturm“. Er kannte sich gut aus. Warum war mir damals auch unklar. Und immer gingen wir auf den Friedhof zum Grab einer gewissen Klara Emmert. Bis mir später klar wurde, das war das Grab seiner ersten Frau, die aus Greiz stammte und in jenem eiskalten Nachkriegswinter während seiner Gefangenschaft in Jugoslawien gestorben war. Das Thema Jugoslawien sollte dann bei mir später nochmal eine Rolle spielen. Nicht weit vom Friedhof erstreckte sich der Greizer Park, damals viel schöner als unser Herzogenriedpark, der Untere Luisenpark und der nur sehr kleine Obere Luisenpark, in dem später das Pflanzenschauhaus gebaut wurde, die erste Attraktion. Dass sich das alles später enorm weiterentwickelt hat, ist der Bundesgartenschau 1975 zu verdanken; doch dazu kommen wir noch. Eine andere Zeit und andere Geschichten….
Während unseres Aufenthaltes in Greiz haben wir immer viele Besuche bei allen möglichen Leuten gemacht, die ich in Zusammenhang bringen konnte oder nicht. Z.B. die Familie Voitel, die enteigneten Spediteure, deren Tochter Rosel (eigentlich Rosemarie) bei uns in Mannheim wohnte und im Advent oft eindrucksvolle „Lichterabende“ veranstaltete; oder meine Patentante (Ger)Linde, die irgendwann in die Neubau-Wohnung im neuen nördlichen Stadtteil zog. Ein Grossonkel von mir hatte eine tolle Piko-Modellbahn, 2-stöckig, da kam meine Modellbahn nicht mit. Von ihm, dem Zwangsgeldumtausch, der Anmeldung bei der örtlichen Polizeibehörde, Briefmarkenkauf und der Rückfahrt nach Mannheim soll im denkwürdigen Jahr 1968 die Rede sein, als die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling beendeten (auch eine Folge in „Tannbach“, Teil 6) und wir ausgerechnet auch da wieder einmal in Greiz waren, so wie beim Mauerbau 1961.
Aber mit diesen Schilderungen hier möchte ich erst mal einen Schlussstrich ziehen unter das Leben in der DDR und meine Grundschuljahre in der Uhlandschule in Mannheim. In der damals verpflichtenden Schulempfehlung bekam ich das Gymnasium empfohlen, obwohl die Eltern wohlweislich die Mittelschule (Vorläufer der Realschule) haben wollten, vielleicht ahnend, dass ihre finanziellen Mittel und sozialen Verbindungen als Arbeiter nicht für eine höhere Karriere reichen würden. Oh, wie recht sie hatten! Die finanziellen Mittel waren nicht das Problem, die (fehlenden) sozialen Kontakte aber schon. Das war nur damals niemandem so richtig bewusst und hat sich erst viel später immer deutlicher gezeigt. Also beendete ich mein 4. Schuljahr in der Uhlandschule und war für das 5. zu Ostern 1964 im Moll-Gymnasium in der Neckarstadt angemeldet. Das Moll war damals neben der Wohlgelegenschule im Dreieck zwischen Bibiena-, Röntgen- und Friedrich-Ebert-Str. gelegen und galt als naturwissenschaftlich-mathematisches Gymnasium für Jungs (keine Mädchen). Mit dieser Erwartung ging ich also in die Osterferien 1964.
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